Die Revue der Neuerscheinungen I: Das ganze Leben – ein einziger Gefühlsmix
Lesungen und Gespräche mit Navid Kermani, Barbara Köhler, Peter Kurzeck, Michael Lentz, Harald Martenstein, Katja Oskamp, Ulrich Peltzer, PeterLicht, Christian Schloyer, Lutz Seiler, Burkhard Spinnen. Moderation: Maike Albath, Verena Auffermann, Michael Braun, Dirk Kruse, Hajo Steinert, Florian Felix Weyh.

14.00 Uhr Navid Kermani - anschl. Gespräch mit Maike Albath (Nebenpodium I)
14.30 Uhr Christian Schloyer - anschl. Gespräch mit Michael Braun (Nebenpodium II)
15.00 Uhr Peter Kurzeck - anschl. Gespräch mit Verena Auffermann (Nebenpodium I)
15.30 Uhr Lutz Seiler - anschl. Gespräch mit Maike Albath (Nebenpodium II)
16.00 Uhr Katja Oskamp - anschl. Gespräch mit Florian Felix Weyh (Nebenpodium I)
16.30 Uhr PeterLicht - anschl. Gespräch mit Dirk Kruse (Nebenpodium II)
17.00 Uhr Michael Lentz - anschl. Gespräch mit Verena Auffermann (Nebenpodium I)
17.30 Uhr Burkhard Spinnen - anschl. Gespräch mit Florian Felix Weyh (Nebenpodium II)
18.00 Uhr Ulrich Peltzer - anschl. Gespräch mit Maike Albath (Nebenpodium I)
18.30 Uhr Barbara Köhler - anschl. Gespräch mit Michael Braun (Nebenpodium II)
19.00 Uhr Harald Martenstein - anschl. Gespräch mit Florian Felix Weyh (Nebenpodium I)

Was ist Glück? Jeder hat darauf naturgemäß eine andere Antwort. Die große Liebe mag es sein. Die Geburt eines Kindes, der Blick auf die Rosen im eigenen Garten vor dem Haus, die Überwindung einer schweren Krankheit, langes Leben überhaupt. Von alldem handeln Erzählungen, Romane und Gedichte in diesem Sommer, der in literarischer Hinsicht so heiß ist, wie schon lange keiner mehr!
Die wohl kindsköpfigste Antwort auf die Frage, was denn Glück sei, lautet traditionell: ein Sechser im Lotto. In Thommie Bayers Roman „Eine kurze Geschichte vom Glück“ sind es immerhin 6,2 Millionen Euro, die der Held gewinnt. Dass Geld allein nicht glücklich macht, gehört zu den schmerzvollen Erfahrungen, die Thommie Bayers – nicht nur in Sachen Liebe – angeschlagener und folglich durch die Welt taumelnder Held macht. Ein seelischer Gesamtzustand, der gewiss auch auf die junge Regieassistentin in Katja Oskamps Roman „Die Staubfängerin“ zutrifft. Sie verliebt sich Hals über Kopf in einen 20 Jahre älteren Dirigenten. Und zieht zu ihm in dessen Reihenhaus. Kann das gut gehen? Das Finale des Romans ist sehr überraschend.
Es sind nicht nur Kurzmitteilungen des Glücks, die eine Geschichte in Bewegung setzen können. In Navid Kermanis Roman „Kurzmitteilung“ ist es eine SMS mit tödlichem Inhalt, die den Helden um seinen Schlaf bringt. Dabei ist Dariusch, erfolgreicher Event-Manager, eigentlich ein „cooler“ Typ. Der Tod einer Frau, mit der er ausnahmsweise kein erotisches Verhältnis hatte, geht ihm nicht aus dem Sinn. Navid Kermani ist ein virtuoser Erzähler, der seine Romanhandlung derart in der Schwebe hält, dass man sich als Leser dabei erwischt, den ins Straucheln geratenen Mann unbedingt auf sicherem Boden stehen sehen zu wollen.
Ins Straucheln geraten kann man auch, wenn einem bewusst wird, dass man auf Schritt und Tritt von Überwachungskameras verfolgt wird. In Ulrich Peltzers neuem Roman „Teil der Lösung“ – dem Berlin-Roman unter den aktuellen Neuerscheinungen – steht eine solche Kamera am Potsdamer Platz. Der für politischen Aktionismus leicht affizierbare Christian, ein freier Journalist, tut alles ihm Mögliche, um Kontakt zu den Roten Brigaden in Paris aufzubauen. Anstelle eines Kämpfers trifft er zunächst eine Studentin, was diesem ohnehin vielschichtig auf verschiedenen Erzählebenen angelegten Text eine unverhoffte Stoßrichtung gibt ...
Wie man das Straucheln und Zögern, Stehen bleiben und Laufen, Schauen und Erinnern miteinander in Einklang bringt, ohne dass einem dabei die Luft ausgeht, zeigt Peter Kurzeck von Roman zu Roman. In seinem neuen sprachmusikalischen Wunderwerk „Oktober oder wer wir selbst sind“ vergegenwärtigt sich der Erzähler einige existenzielle Erlebnisse im Jahre 1983.
Überhaupt wundert man sich angesichts der Neuerscheinungen in diesem Sommer und Herbst, welche Bedeutung die 80er-Jahre für das erzählerische Temperament der Autoren haben! In Katja Lange-Müllers Roman „Böse Schafe“ ist es eine selbstbewusste, verletzliche, sanfte, schnoddrige, aber auch ziemlich verrückte Ostberlinerin, die sich, im Westen angekommen, wenige Jahre vor der Maueröffnung, einer wahnwitzigen Liebesbeziehung hingibt. Ein hinreißend traurig-komisches Buch! Bei Burkhard Spinnen ist es ein (erfundener) „weltbester Zehnkämpfer“, der 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles beim Weitsprung versagt und sich somit selbst um alle Medaillenhoffnungen bringt. Burkhard Spinnen, ein Meister der exzellent formbewusst gestalteten Kurzgeschichte, überrascht mit einem Roman voll psychologischem Tiefsinn und subtil in Szene gesetzter Spannung.
In Michael Kleebergs neuem Roman „Karlmann“ ist es kein Zehnkämpfer, sondern ein Tennisspieler der 80er-Jahre, der es dem Autor angetan hat. Die Rede ist von keinem anderen als Boris Becker, der mit seinem ersten Wimbledon-Sieg im Juli 1985 den Helden dieses grandios erzählten Bildungsromans derart in Schwung bringt, dass dieser beschließt, fortan so lange und hart an sich zu arbeiten, bis auch aus ihm etwas Großes, etwas männlich Starkes wird.
Alex Capus geht bis zu Kaiser Wilhelm zurück, um seinen fantastisch recherchierten Abenteuerroman in Szene zu setzen. Drei Männer transportieren ein Dampfschiff in Einzelteilen nach Afrika – der Beginn einer Odyssee zu Zeiten, als Deutschland noch Kolonien hatte. In diesem Jahr ist es Michael Köhlmeier, der mit einem gewissen Carl Jacob Candoris in seinem Roman „Abendland“ eine ganz außergewöhnlich facettenreiche Figur geschaffen hat. Auf über 700 Seiten erzählt er nicht nur von den Stationen und Schicksalsschlägen eines 95 Jahre währenden bewegten und bewegenden Lebens, sondern darüber hinaus auch entscheidende, von Niederlagen gezeichnete und Hoffnung getragene Kapitel der deutschen Geschichte nach.
Zeitgeschichte in Form erzählter individueller Schicksale ist immer noch der Stoff, aus dem große Romane entstehen. Krieg und Nachkriegszeit nehmen dabei einen besonderen Stellenwert ein. Michael Lentz, sonst – wie man von seinen früheren überragenden Erlanger Auftritten weiß – einer der experimentierfreudigsten Lyriker Deutschlands, erzählt in „Pazifik Exil“ von Menschen, die wirklich gelebt haben. Wie war das, als Heinrich Mann auf der Flucht vor den Nazis die Pyrenäen überquerte, Brecht sich – ehe er nach Amerika ging – von seinen Mitarbeitern am Theater verabschiedete, Thomas Mann Reporter abwimmelte, die um sein Haus herumschlichen?
Der spitzfindige Essayist Harald Martenstein wurde in diesem Jahr zum Erlanger Poetenfest eingeladen, weil er mit einem aufregenden Romandebüt sein Publikum überrascht. In „Heimweg“ erzählt er die Geschichte von Joseph, der mit einem Lungendurchschuss aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause kommt und weiter kämpfen muss. Auf Trümmern gebaut – das ist auch der Roman „Lichte Stoffe“ von Larissa Boehning. Ein Amerikaner lässt 1946 in den Ruinen Berlins die von ihm geschwängerte Frau zurück. Der Soldat schenkt ihr zum Abschied ein Bild von Degas. Die Enkelin recherchiert die Geschichte ihrer Großmutter und versucht das Geheimnis um das Gemälde zu lüften.
Für Silke Scheuermann, eine der jüngsten unter den Autorinnen und Autoren, die sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa ihr Talent beweisen, ist die Liebe das Mysterium schlechthin. Bei ihr ist das Liebesmotiv verankert in den Lauf und in die Mentalitäten der heutigen Zeit. Wenn Kathrin Groß-Striffler von der Liebe erzählt, überwiegt der Eindruck des Zeitlosen. Ihr Roman „Gestern noch“ ist von einer Zeitlosigkeit, die verblüfft. Was nicht heißt, dass die Geschichte, die von der Liebe einer Abiturientin in einer fränkischen Kleinstadt zu einem jungen Bauern am anderen Ende des Ortes handelt, nicht zeitgemäß wäre.
An der Literatur der Moderne – Beckett, Gertrude Stein zum Beispiel – misst sich und lässt sich die Lyrikerin Barbara Köhler messen. Ihre Übertragungen von Gedichten und Texten ihrer Vorbilder aus dem Französischen bzw. Amerikanischen sind einzigartig. Aber auch in ihren eigenen strengen, aber nicht hermetischen Texten kommt sie der Komplexität von Verhältnissen zwischen dem Einzelnen und der Macht, zwischen Mann und Frau, Wort und Tat auf die Spur.
Von der Liebe singen in kurzen, lakonischen, streng gefassten, mal schnippisch heiteren, ironisch verspielten, mal melancholisch gebrochenen Versen – kaum eine andere deutsche Lyrikerin beherrscht ihre (man nehme das einmal ganz wörtlich) Dichtkunst so, wie Doris Runge. „die dreizehnte“ ist von den Lyrikbänden, die in diesem Jahr erscheinen, einer der ganz leisen und gerade deshalb einer der spektakulären.
Was man von Oswald Eggers „nihilum album“ und der darin zu Tage tretenden unvergleichlich schönen und musikalischen Poesie, streng in Vierzeiler geordnet, ebenfalls sagen kann. 3650 Priameln und Schnaderhüpferln, tänzelnde Wortarabesken, versetzen die Zuhörer, nicht zuletzt wegen der hohen Vortragskunst des Autors, in respektvolles Staunen und Schweigen.
Mit der großen deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart misst sich in diesem Jahr der junge, aus Erlangen stammende Christian Schloyer – kein Unbekannter beim Poetenfest, schließlich hat man ihn schon mehrmals als Mitglied der Autorengruppe „Wortwerk“ hören können. Jetzt erscheint mit „spiel · ur · meere“ sein erstes eigenes Buch.
Lutz Seiler, einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart und Gewinner des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, wagt sich in diesem Jahr zum ersten Mal mit Prosa an ein großes Publikum. In „Turksib“ erzählt er, in einem lyrischen Rhythmus, von einer Eisenbahnfahrt in Kasachstan. Der Ich-Erzähler hat einen Geigerzähler dabei. Das Ticken des Geigerzählers diktiert den Rhythmus des Erzählens.
Bleibt auf zwei Autoren hinzuweisen, die den Rhythmus sozusagen im Blut haben: Jan Böttcher und PeterLicht sind Musiker. Beide standen jüngst, jeder auf seine eigene Art, beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im Rampenlicht. Jan Böttcher ist Gründer der Band „Herr Nilsson“. Als Autor verstand er sich zunächst auf makabre Abenteuergeschichten. In „Freundwärts“ überraschte er in diesem Jahr am Wörthersee mit einer deutsch-deutschen Geschichte, in der es um das sehr verwinkelte Verhältnis von Sohn, Vater und Großvater geht. Der Pop-Poet PeterLicht gewann in Klagenfurt mit einer urkomischen, ebenso fröhlichen wie todernsten Beschwörung der Apokalypse. „Die Geschichte meiner Einschätzung vom Anfang des dritten Jahrtausends“ gewann den 3sat- und den Publikumspreis. Kein schlechtes Omen für Erlangen.
Hajo Steinert

Samstag, 25. August, 14–20 Uhr, Schlossgarten