Autorenporträt: Elisabeth Borchers
Lesung und Gespräch mit Maike Albath

Lautlos steht es geschrieben

„eia wasser regnet schlaf / eia abend schwimmt ins gras / wer zum wasser geht wird schlaf / wer zum abend kommt wird gras / weißes wasser grüner schlaf / großer abend kleines gras / es kommt es kommt / ein fremder“.
Mit diesem Gedicht, veröffentlicht am 20. Juli 1960 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, trat Elisabeth Borchers erstmals als Lyrikerin in Erscheinung und löste gleich einen Sturm der Entrüstung bei den Feuilletonlesern aus, die ihrem Ärger in zahllosen Leserbriefen Luft verschafften.
Elisabeth Borchers war damals erschüttert von den Reaktionen. Heute weiß sie, warum die Aufregung um dieses Gedicht in assoziativem, einlullenden Tonfall scheinbarer Kindersprache, mit dem ernste Inhalte vermittelt werden, so fulminant war: „Schließlich ging es um Tabubrüche, die ich natürlich nicht als solche empfand. Und es war in einem solchen Übermaß, diese Reaktionen, dass ich nachher überhaupt nicht mehr ein noch aus wusste mit den Protesten“.
Ihre Poetik-Vorlesungen, die Elisabeth Borchers 2003 an der Frankfurter Universität gehalten hat, beginnen mit den Worten: „Immerzu die Frage, wo fange ich an, immerzu die Antwort, dass ich es nicht weiß. Ein Zufallsfund in einem Gedicht. Aristoteles behauptet, die Perle sei das Herz der Muschel. Ich könnte fortfahren: Die Kindheit ist das Herz des Menschen“. In dieser Kindheit, die Elisabeth Borchers, vor den Bomben des Zweiten Weltkriegs fliehend, im Haus der Großeltern im Elsass verbringt, findet sie in deren Bibliothek früh den Zugang zur Sprache der Literatur. „Da entdeckte ich einen Band mit Heine-Gedichten, und die habe ich gelesen mit Überschwang, hellster Freude. Und ich fand sie unglaublich schön und unverzichtbar.“
Im Jahr 1961 erscheint Elisabeth Borchers erster Lyrikband „Gedichte“: Verse „von märchenhafter Zartheit, submariner Schönheit und Unwirklichkeit“ (Karl Krolow). Gleichzeitig mit dem Erscheinen ihres ersten eigenen Buches wird Elisabeth Borchers eine Stelle als Lektorin beim Luchterhand Verlag angeboten. Dort lernt sie den Beruf von der Pike auf, und das so erfolgreich, dass Siegfried Unseld sie elf Jahre später zum Suhrkamp Verlag nach Frankfurt holt. Disziplin und Willensstärke, die sie als wagemutige und formbewusste Lyrikerin auszeichnen, machen sie auch zu einer gefürchteten und geachteten Lektorin. Jahrzehntelang gilt sie als „literarisches Gewissen“ des Suhrkamp Verlags und bietet in ihrem Büro Autoren wie Peter Handke, Jurek Becker oder Thomas Bernhard Paroli. Durch ihren unbedingten Qualitätsanspruch prägt sie die deutschsprachige Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere Persönlichkeit des Literaturbetriebs.
Parallel zu ihrer Lektoren- und Herausgebertätigkeit entwickelt sich ihre eigene literarische Karriere. Bis heute erscheinen in regelmäßigen Abständen neue Gedichtbände – daneben auch wenige Prosa-Texte – die Elisabeth Borchers zu einer der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht haben. Als schwierig empfand sie ihre Doppelrolle jedoch nie: „Nein, wenn man selbst ein bisschen widerstandsfähig ist, gegen diesen Anprall von Vokabularien, von Wörtern, von Bildern, dann wird man sich der eigenen Möglichkeiten oder Festigkeiten doch sehr bewusst und man kann sich widersetzen gegen das, was einen von außen anbrandet“.
Marcel Reich-Ranicki bezeichnet Elisabeth Borchers als „eine Meisterin des Verschweigens und der irritierenden Stille“. Sie entgegnet darauf: „Wissen Sie, ein Gedicht ist von Haus aus still. Sie haben natürlich, wie es in einem Gedicht üblich ist, eine Atmosphäre der Stille, so wie man halt versucht, sich auf ein Wort zu konzentrieren, das man finden muss, das man suchen muss, um es niederschreiben zu können.“ „Von allen Dichtern“, so formuliert es der Schriftsteller Arnold Stadler, mit dem sie eng befreundet ist, „ist Elisabeth Borchers die spektakulär Unspektakulärste“.
Im Jahr 1998, mit 72 Jahren, beendet Elisabeth Borchers ihre Lektoren-Tätigkeit bei Suhrkamp. Fünf Jahre später hält sie ihre Frankfurter Poetikvorlesungen, die unter dem Titel „Lichtwelten. Abgedunkelte Räume“ erschienen sind. Darin reflektiert sie ihre lebenslange Beschäftigung mit der Literatur und zeigt die Folgen davon auf. „Helligkeit und Dunkelheit, Sanftheit und Härte schlagen in Literatur um.“ Elisabeth Borchers gelingt das Kunststück einer poetischen Poetikvorlesung. Was wie biografische und literarische Narration aussieht, ist keine Erzählung, keine Erklärung, sondern die Veranschaulichung von Momenten, Bildern, Wörtern, aus denen sich Gedichte entwickeln können, für die es, so Elisabeth Borchers „kein theoretisches Kleingeld, keine Faustregeln gibt. Jedes Gedicht ist ein Wagnis“.
Im Jahr 2006, zum 80. Geburtstag, erschien Elisabeth Borchers vorerst letzter Gedichtband „Zeit. Zeit“. Ihre darin versammelten Gedichte bestechen durch die mutige Zartheit ihrer Sprache und werfen einen souveränen Blick hinter die Unruhe unserer Tage: „Wenn der Bach versiegt / wenn die Wörter versiegen / wenn der Wind vorüberweht / und ich immer bin, wo nichts mehr ist.“

Sonntag, 26. August, 20.30 Uhr, Markgrafentheater