Lutz Seiler

„Die poesie ist mein schießhund“ überschreibt Lutz Seiler ein Peter Huchel gewidmetes Gedicht, in dem er eine Art privater Dichtungslehre entwickelt. Die Poesie, das ist sein Seismograph, sein Geigerzähler, Maßstab für die Schwingungen der Wirklichkeit und Mittel, der Realität auf die Schliche zu kommen. In seinem neuen Prosatext „Turksib“, für den Lutz Seiler in diesem Jahr in Klagenfurt mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, trägt der Protagonist und Ich-Erzähler einen Geigerzähler unter dem Pullover. Gemeinsam mit dem flüsternden Kästchen gerät er auf einer Zugfahrt Richtung Syemey irgendwo auf dem Territorium der alten Sowjetunion in eine eigentümliche, surreal überhöhte Zwischenwelt. Als er auf dem Korridor einem Heizer begegnet, der wegen der deutschen Herkunft des Fremden gerührt Heine zu zitieren beginnt, aber nach drei Versen stockt, kommt es gar zu einer Art Vereinigung. Weil der Reisende dem Heizer, der durchaus Züge des gerade verstorbenen Schriftstellers Wolfgang Hilbig trägt, mit einer fehlenden Textzeile aushelfen kann, steigert sich der erlöste Zitator in eine Umarmungsorgie samt Kuss hinein. In immer schneller ratternden Satzkaskaden und intensiveren Rhythmusbewegungen stürzen die beiden Männer ineinander. Lutz Seiler wurde 1963 in der ehemaligen DDR geboren. Das Vermächtnis seiner Herkunft lagert sich in seinen Gedichtbänden „pech & blende“ und „vierzig kilometer nacht“ ab. Sein Heimatdorf wurde für den Uranabbau geschleift. Nur die übrig gebliebene Abraumhalde heißt heute noch so, wie das Dorf einmal hieß. Wenn vom „geiger zähler herz“ des im Uranabbau tätigen Vaters die Rede ist oder von dem „ticken der kartoffeln in den speisekammern“ fließt die kontaminierte Vergangenheit direkt in die Texte mit ein. Aber Lutz Seiler, der heute das Peter Huchel-Haus in Wilhelmshorst leitet, geht es nicht um die vordergründige Thematisierung der DDR-Misere. Er arbeitet vielmehr an der Sprache, um subjektive Erfahrungsräume neu zu fassen. In seinen äußerst verdichteten Texten bleiben die DDR, der Sozialismus, die Armeezeit immer ein Bezugspunkt und bedingen die Bildwelt. Der suggestive Rhythmus, die Alliterationsstakkati und die netzartige Struktur künden aber auch davon, dass es hier um die Sprache als Erkenntnisinstrument geht. „Mit Abstand entstehen härtere Zeichen“, heißt es einmal, und mit seinem jüngstem Text „Turksib“ hat Lutz Seiler einen neuen Härtegrad erreicht. (M. A.)
Auszeichnungen u.a.: Kranichsteiner Literaturpreis (1999), Dresdner Lyrikpreis, Lyrikpreis Meran (2000), Anna Seghers-Preis (2002), Bremer Literaturpreis (2004), Preis der SWR-Bestenliste (2005), Ingeborg Bachmann-Preis (2007).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „berührt / geführt“, Gedichte, zus. mit Carmen Schmidt, Oberbaum, Chemnitz 1995 – „Topol, Jachym: Das Hier kenn ich“, Nachdichtungen, Galrev, Berlin 1996 – „pech & blende“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2000 – „Jahrbuch der Lyrik 2003“, Hrsg. zus. mit Christoph Buchwald, C. H. Beck, München 2002 – „vierzig kilometer nacht“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003 – „Sonntags dachte ich an Gott“, Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004 – „Vor der Zeitrechnung“, Gedichte und eine Erzählung, Audio-CD, Parlando, Wien 2006

Samstag, 25. August, 15.30 Uhr, Schlossgarten