Barbara Köhler

Manchmal beginnt Dichtung mit dem Ausbruch aus der „Knechtschaft der Zeichen“. Manchmal verwandelt sich in diesem Zusammenhang eine Dichterin in „Wittgensteins Nichte“. Das kann bedeuten: Diese „Nichte“ sucht die geistesverwandtschaftliche Nähe zu dem berühmten österreichischen Sprachphilosophen. Oder aber: Sie sucht den größtmöglichen Abstand zu Wittgenstein, in der Vermehrung der Negationen – eben die „Nichte“. Die 1959 geborene Barbara Köhler jedenfalls, die ihre „Vermischten Schriften“ unter den Titel „Wittgensteins Nichte“ stellte, betreibt ihre Dichtkunst als akribische Erforschung des Zwangssystems Sprache. „Im Mundraum im Sprachraum sind wir Gefangene“, heißt es in einem ihrer poetisch-essayistischen Texte – und tatsächlich geht es um Verletzungen, die das Zwangssystem von Syntax, Semantik und Grammatik dem sprechenden Subjekt zufügen. Aufgewachsen im sächsischen Penig, arbeitete Barbara Köhler nach dem Abitur zunächst als Altenpflegerin und später am Theater in Chemnitz. Als Dichterin beeindruckte sie 1991 mit ihrem Debüt „Deutsches Roulette“. Dort formulierte sie das Lebensgefühl einer skeptischen und haltlos gewordenen Generation in der Spätzeit der DDR. Nach ihrem Studium am Leipziger Literaturinstitut (1985–1988) begann die Autorin in den 90er-Jahren mit Texten im Raum, mit Sprachinstallationen und Multiples zu arbeiten. „Ich rede mit der Sprache“, heißt es im Auftaktgedicht des Gedichtbandes „Blue Box“(1994), „manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders.“ Der Zusammenhang von Sprache und Macht und die immanente Gewalt der Grammatik werden für Barbara Köhlers Poesie zur Zerreißprobe. „Die Tücke des Subjekts“ – so lautet ein Gedichttitel – wird lesbar als Ohnmachtserfahrung des Ichs: Denn das Subjekt ist hier kein Souverän, sondern ein „sub-iectum“, also eine unterworfene Instanz. Das Subjekt wird gleichsam umzingelt von den Redegesten, die das Ich funktionalisieren wollen. In ihrem neuen Buch, an dem sie viele Jahre gearbeitet hat, versucht sich Barbara Köhler an einer kritischen Überschreibung eines literarischen Urtextes – der „Odyssee“ des Homer. „Niemands Frau“ ist das Projekt einer Re-Lektüre der Odyssee, eine Überprüfung des Mythos, seiner Wandlungen und Beständigkeiten. Hier werden Sprachspiele probiert, Kriegsspiele, Gesellschaftsspiele, Tragödien, Komödien, Telenovelas, ewige Machtkämpfe im Krieg der Geschlechter. (M. B.)
Auszeichnungen u.a.: Förderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung (1990), Förderpreis zum Leonce-und-Lena-Preis (1991), Förderpreis zum Else Lasker-Schüler-Preis (1994), Clemens Brentano-Preis (1996), Literaturpreis Ruhrgebiet (1999), Internationaler Norbert C. Kaser-Preis (2005), Spycher: Literaturpreis Leuk (2007).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Deutsches Roulette“, Gedichte 1984–89, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, TB ebd. 2002 – „Blue Box“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995 – „In Front Der See“, KTG, Rheinsberg 1995 – „cor responde“, Gedichte portugiesisch/deutsch, zus. mit Ueli Michel, pict.im., Duisburg/Berlin 1998 – „Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften. Mixed Media“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999 – „Niemands Frau“, Gesänge, Suhrkamp, Frankfurt a.M., September 2007
Übersetzungen (Auswahl):
– Gertrude Stein: „zeit zum essen. eine tischgesellschaft“, mit Audio-CD, Engeler, Basel 2001 – Gertrude Stein: „Tender Buttons – Zarte knöpft“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004 – Samuel Beckett: „Mirlitonnades – Trötentöne“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005

Samstag, 25. August, 18.30 Uhr, Schlossgarten