Silke Scheuermann

Als Silke Scheuermann im Jahr 2001 mit ihrem Debütbuch „Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen“ die Bühne der Literatur betrat, wurde sie sogleich als neues lyrisches „Fräuleinwunder“ gefeiert. Weil dieser Debütband auch einige anrührende Liebesgedichte enthielt, bastelte man eilfertig am Mythos der neuen Poetessa, die mit großer Hingabe die neuen lyrischen Koordinaten für Liebe und Leidenschaft entwickle. Sofort zirkulierte die Legende, die Autorin sei eine zarte Wiedergängerin der großen Ingeborg Bachmann. So verheißungsvoll das klingen mag, so problematisch sind doch solche Vergleiche, die mehr mit dem Bedürfnis nach neuen Ikonografien des anmutig Weiblichen, als mit den Texten selbst zu tun haben. Zugegeben: Das Gedicht „Curriculum Vitae oder Das Problem der biographischen Ängstlichkeit“, das in einem Buch Silke Scheuermanns an zentraler Stelle steht, reagiert auf ein legendäres Poem aus Ingeborg Bachmanns Band „Anrufung des Großen Bären“. Aber Silke Scheuermanns Text ist vertrackter und schwieriger als das Original, misstrauischer auch gegenüber den Behauptungen der darin konturierten Ich-Figur. Bereits vor Erscheinen ihres Debüts wurde die Autorin mit dem renommierten Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet, es folgten zahlreiche Stipendien und Auslandsreisen, die sie bis nach Los Angeles, Seoul und Beirut führten. 1973 in Karlsruhe geboren und im badischen Weingarten aufgewachsen, hat Silke Scheuermann in Frankfurt, Leipzig und Paris Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und nach dem Studium als Theaterkritikerin für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gearbeitet. Der Titel von Silke Scheuermanns zweitem Gedichtbuch – „Der zärtlichste Punkt im All“ (2004) – weckte die Erwartung auf kosmische Verheißungen. Die Autorin hat hier die berühmte Hauptfigur aus Lewis Carrolls fantastischer Kindergeschichte „Alice im Wunderland“ zu ihrem Alter Ego erwählt. Sehr schnell wird klar, dass dieses traumdurchmischte „Wunderland“ viele dunkle und abgründige Dimensionen hat. Denn es war der denkwürdige 11. September 2001, der die Bildfindung vieler Gedichte Silke Scheuermanns bestimmt. „Ich versuche eben immer eine Art Handlung zu schaffen und theaterhafte Szenen zu bilden, die sich formal am ehesten mit Balladen vergleichen lassen“, so die Autorin in einem Interview. Solche „theaterhafte Szenen“ findet man auch in der Prosa Silke Scheuermanns, in den Erzählungen des Bandes „Reiche Mädchen“ (2005) und ihrem ersten Roman „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ (2007). Fast immer kreisen ihre Geschichten um Handlungen, die – wie es programmatisch heißt – „der Liebe täuschend ähnlich sehen“. Und fast immer ist es dabei die Katastrophe des Verlassenwerdens, der Zurückweisung, der Liebeskränkung, von der die Figuren in ihren seelischen Fundamenten erschüttert werden. Die neuen Gedichte Silke Scheuermanns, gesammelt in ihrem neuen Band „Über Nacht ist es Winter“, gehen wieder ins unsichere Territorium des Fantastischen. Alte Männer sitzen als vermeintliche Werwölfe im Park, Wasserfrauen verlassen das Meer, um sich Stöckelschuhe zu kaufen. All diese archaischen und modernen Mischwesen sind sich ihrer Identität und ihres Körpers unsicher. Silke Scheuermann schreibt Fantastisches, Surreales, aber auch Gedichte über die Verwandlung durch Krankheit und Schmerz. Und natürlich finden wir wieder Liebesgedichte, die von der Begegnung mit dem Wunderbaren handeln – oder von Ernüchterungen. (M. B.)
Auszeichnungen u.a.: Leonce-und-Lena-Preis (2001), Literaturstipendium der Villa Aurora Los Angeles, Stipendium der Kunst- und Kulturstiftung Baden-Württemberg (2004), Hermann-Hesse-Literatur-Förderpreis, New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2006), Grimmelshausen-Förderpreis der Stadt Gelnhausen (2007).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001 – „Der zärtlichste Punkt im All“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004 – „Reiche Mädchen“, Erzählungen, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2005, TB Goldmann, München 2006 – „Jahrbuch der Lyrik“, Hrsg. zus. mit Christoph Buchwald, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2007 – „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“, Roman, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2007 – „Über Nacht ist es Winter“, Gedichte, Schöffling & Co., Frankfurt a. M., August 2007

Sonntag, 26. August, 13.30 Uhr, Schlossgarten