Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeiers Roman „Abendland“ ist ein großer Wurf, ein gewagtes, ehrgeiziges und gelungenes Großprojekt. Nichts weniger als das gesamte 20. Jahrhundert wird in diesem dichten, 775 Seiten umfassenden Buch beschrieben. Das 20. Jahrhundert ist hier nicht nur ein Jahrhundert der Kriege und des Grauens. „Abendland“ ist die Lebensgeschichte des mehr als 90 Jahre alten Mathematikprofessors Carl Jacob Candoris, der mit den Worten „ich habe gerade Inventur gemacht“ seinen Patensohn Sebastian Lukasser in sein Haus nach Lans in Tirol bittet: „Dass du mein Leben nacherzählst.“ Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier, der 1949 geboren wurde, hat so ziemlich alles studiert, was es zwischen Politikwissenschaft, Mathematik und Philosophie zu studieren gibt, und so ziemlich alles gemacht, was man, wenn man schreiben kann, tun kann: Lied- und Kabaretttexte geschrieben, antike Sagenstoffe fürs Radio nacherzählt und natürlich seit 1982 Romane und Erzählungen geschrieben, und zwar ziemlich viele. Einmal lässt Michael Köhlmeier Sebastian Lukasser sagen: „Ich erzähle nie die Wahrheit, wenn ich etwas beschreibe“. Wer „Abendland“ liest, glaubt das nicht. In diesem opus magnum verquickt Köhlmeier die lange Lebensgeschichte des Mathematikprofessors Carl Candoris, Erbe der Feinkost-, Süßwaren- und Kolonialwarenkette Bárány & Co., mit der Lebensgeschichte des Erzählers Sebastian Lukasser, Sohn des verrückten, fanatischen Jazzmusikers Georg Lukasser. Wir bekommen Einblick in zwei Welten, in die des großbürgerlichen Wissenschaftlers Candoris, der in Göttingen mit vielen großen Geistern studierte und mit der wunderbaren Margarida, einer Portugiesin, verheiratet ist. Daneben wird die Geschichte von Georg Lukasser erzählt, der ein Serviermädchen aus dem Wiener Hotel Imperial heiratet und bis 1948 mit seiner Gitarre das unangefochtene Genie der Wiener Jazzszene ist, nach Amerika reist, dort die Großen des Jazz trifft und wieder heimkommt nach Wien zu Frau und Kind in eine kleine Wohnung, in die kleinen Verhältnisse. Sebastian Lukasser, der Schriftsteller geworden ist, erzählt vom Leben als Sohn eines erst „unangefochtenen“ und dann untergehenden Jazzgenies, von einer chaotischen Kindheit, von der Liebe und Bewunderung zu einem schwierigen, unberechenbaren Vater und der nicht ganz störungsfreien Beziehung zu seiner Mutter und den ebenfalls nicht ganz störungsfreien Beziehungen zu den vielen Frauen, mit denen ihn wechselnd glückliche, erotische Zwischenspiele verbinden. Wie nebenbei eröffnet Michael Köhlmeier durch seine mitreißend, meist sehr liebevoll gezeichneten Figuren das Panorama eines Jahrhunderts, mit seinen Schrecken und Irrtümern, seinen Gedanken und Errungenschaften. Und erzählt in Ausschnitten, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, die Geschichte der Philosophie, der Mathematik, der Physik und des Jazz und natürlich auch die des Zweiten Weltkriegs. Michael Köhlmeier behandelt diese Themen mit der Leichtigkeit dessen, der weiß, dass eine gute Geschichte wie das Leben gebaut sein muss. Das ist Michael Köhlmeier in diesem großartigen allumfassenden spannenden Roman, der nie lehrreich, aber im allerbesten Sinn belehrend ist, mit dem man sich für ein bis zwei glückliche Lesewochen von der übrigen Welt zurückziehen sollte, geglückt. Ein Roman, wie er selten gelingt. (V. A.)
Auszeichnungen u.a.: Rauriser Literaturpreis (1983), Johann Peter Hebel-Preis für Literatur (1988), Manès-Sperber-Preis (1993), Johann-Jacob-Christoph von Grimmelshausen-Preis (1997).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Der Peverl Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf“, Roman, Hoffmann und Campe, Hamburg 1982 – „Moderne Zeiten“, Roman, Piper, München 1984, TB ebd. 1994 – „Spielplatz der Helden“, Roman, Piper, München 1988, TB ebd. 1991 – „Die Musterschüler“, Roman, Piper, München 1989 – „Bleib über Nacht“, Roman, Piper, München 1993 – „Sunrise“, Erzählung, Haymon, Innsbruck 1994, TB S. Fischer, Frankfurt a.M. 1999 – „Telemach“, Roman, Piper, München 1995 – „Kalypso“, Roman, Piper, München 1997 – „Dein Zimmer für mich allein“, Erzählung, Deuticke, Wien 1997 – „Bevor Max kam“, Roman, Piper, München 1998 – „Geh mit mir“, Roman, Piper, München 2000, TB ebd. 2002 – „Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war“, Novelle, Deuticke, Wien 2002 – „Roman von Montag bis Freitag“, 38 Storys, Deuticke, Wien 2004 – „Der Spielverderber Mozarts“, Novelle, Deuticke, Wien 2006 – „Abendland“, Roman, Hanser, München, August 2007
Theater (Auswahl):
– „Love & Glory“, Musical, UA Theater der Jugend, Wien 1990 – „Der Narrenkarren. Stück nach Lope de Vega“, UA Bregenzer Festspiele 1993 – „Der liebe Augustin. Eine Ballade fürs Theater“, UA Bregenzer Festspiele 1995 – „Die Welt der Mongolen“, Libretto, UA Landestheater Linz 1997

Sonntag, 26. August., 17 Uhr, Schlossgarten