Porträt International: Per Olov Enquist
So war es, so trug es sich zu ...
Lesung und Gespräch mit Maike Albath

Per Olov Enquist ist ein literarischer Archäologe. Ihn faszinieren die dunklen Seiten der europäischen Geistesgeschichte, und immer wieder fördert er in seinen großartigen Romanen Zeitlücken zutage, kurze Momente, in denen eine Idee plötzlich alles hätte verändern können: Augenblicke des Stillstands, die keine Dauer haben und dennoch den Kern einer Epoche enthalten. Seit dreißig Jahren nimmt sich Enquist irrlichternde historische Stoffe vor, betreibt Sozialforschung mit literarischen Mitteln und erweckt Figuren wie den Aufklärer Graf Struensee, den Magnetiseur Friedrich Meisner, den Sozialdemokraten Elmblad, den Begründer der Pfingstbewegung Lewi Pethrus oder die Nobelpreisträgerin Marie Curie samt ihrer Freundin Blanche Wittmann zum Leben. Die Biografien seiner Helden werden dabei zum Ausdruck eines Zeitalters: ein tiefer innerer Drang treibt Marie Curie zu ihren Entdeckungen oder lässt den Grafen Struensee seine Utopie eines aufgeklärten Herrschertums verwirklichen, bis sich plötzlich etwas dreht, was sie zu Opfern ihres eigenen Fortschritts werden lässt. Wie ein Wünschelrutengänger stößt Per Olov Enquist auf neuralgische Umschlagpunkte und erzählt Geschichten von bezwingender Ambivalenz.
1934 in Hjoggböle/Västerbotten in Nordschweden geboren und in einem streng pietistischen Umfeld aufgewachsen, birgt die Literatur schon früh eine Gegenwelt für ihn. Seine Mutter war Anhängerin der in Schweden weit verbreiteten Pfingstbewegung. Wie sehr das Eintauchen in einen fremden Kosmos und die Beschäftigung mit Kunst für Enquist zu einer emanzipatorischen Kraft wird, lässt sich an seinem autobiografisch grundierten Werk „Kapitän Nemos Bibliothek“ (1994) ablesen. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften in Uppsala beginnt Enquist seine literarische Karriere und prägt schon in den sechziger Jahren einen spezifischen Dokumentarismus, den er zu einem ureigenen literarischen Verfahren entwickeln sollte. So sind in seinem Roman „Der fünfte Winter des Magnetiseurs“ (1964) über die schillernde Gestalt des Magnetiseurs Friedrich Meisner und seine gespenstischen Kräfte echte und erfundene Dokumente miteinander verwoben. Meisner wird zur Chiffre des ausgehenden 18. Jahrhunderts: verehrter Wunderheiler und verhasster Scharlatan, Verführer und Demagoge. 1968 traf Enquist mit seinem Roman „Die Ausgelieferten“ ins Schmerzzentrum der schwedischen Nachkriegsgeschichte und provozierte lebhafte Diskussionen. Als erster beschäftigte er sich mit der so genannten „Baltenauslieferung“: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Schweden mehr als hundertvierzig baltische Flüchtlinge – zum Teil Wehrmachtsangehörige – unaufgefordert an die Sowjetunion ausgeliefert, wo sie zu Zwangsarbeit verurteilt oder hingerichtet wurden. Aus den Nachforschungen in den Archiven von Riga und Zeugenbefragungen rekonstruierte Enquist in seinem Roman die Geschehnisse und unternahm zugleich den Versuch, das Verhältnis von Dokument, Subjektivität und Fiktion zu reflektieren. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war Per Olov Enquist auch als Kolumnist des Feuilletons der überregionalen Abendzeitung „Expressen“ aktiv, engagierte sich kulturpolitisch in verschiedenen Gremien, moderierte Fernsehsendungen und drehte Filme über August Strindberg und Knut Hamsun. Sein Gesamtwerk umfasst rund dreißig Bände. Immer wieder schlägt ihn das Janusköpfige in den Bann: das Doppelbödige der europäischen Aufklärung, die irrationalen Anteile des wissenschaftlichen Fortschritts um 1900 oder die politischen Aspekte einer Erweckungsbewegung wie der Pfingstgemeinde. So wendet sich Enquist in seinem Roman „Der Besuch des Leibarztes“ (1999) der Regentschaft des dänischen Kindkönigs Christian VII. zu, der den fatalen Höhepunkt eines totalen moralischen Verfalls des dänischen Herrscherhauses darstellt. „Er war Gottes Auserwählter. Er stand über allem und war zugleich der Erbärmlichste“ heißt es über den kleinwüchsigen, seelisch gebrochenen König. Als Christian zu einer Reise durch Europa aufbricht, begleitet ihn der Arzt Johann Friedrich Struensee aus Altona. Die Begegnung mit den Pariser Enzyklopädisten wird für den kühlen Pragmatiker Struensee zur Initiation: weil er das Vertrauen des Königs genießt, lässt sich Voltaires Vorstellung, „dass die Geschichte manchmal, durch einen Zufall, einen einzigartigen Spalt in die Zukunft öffnet“, durch den man hindurchschlüpfen und einen neuen Weg einschlagen kann, auf einmal verwirklichen. Struensee nutzt die Gunst des Augenblicks. Er wird mit absoluter Macht ausgestattet, unterzeichnet Dekret um Dekret und stellt das verkommene Dänemark mit neuen Gesetzen vollständig auf den Kopf. Die Presse- und Religionsfreiheit wird eingeführt, die Leibeigenschaft aufgehoben und das Gesundheitswesen reformiert. Doch schon ballen sich im Untergrund die dunklen Kräfte der neuen Toleranz zusammen. Auch formal weiß Enquist das Zwiegesichtige umzusetzen, diesen Widerspruch von Gefühl und Vernunft, das Ringen von Theorie und Praxis, und er durchlöchert die erhitzte Perspektive der Beteiligten durch skeptische Kommentare. Als Struensee Christians Ehefrau verfällt und er sich damit an der Würde des Königtums vergeht, ist er dem Untergang geweiht. Ein Taktiker tritt auf den Plan. Sein Gegenspieler Guldberg kann sich die Schwäche zunutze machen und bezichtigt den radikalen Aufklärer der Dekadenz. Aus der Fackel der Vernunft fiele nur Dunkel, klagt er ihn an – die Lichtgestalt wird durch einen Tabubruch zu Fall gebracht und endet auf dem Schafott.
Für den Fortschritt sei nicht die Wissenschaft die treibende Kraft gewesen, sagt Per Olov Enquist, sondern die Wissenschaft verbunden mit einem tiefen Glauben an Erlösung. Auch „Das Buch von Blanche und Marie“ (2004) erzählt von diesen Hoffnungen, und hier sind die Hoffnungen immer mit Liebesgeschichten verknüpft. In seinen Vorlesungen am Krankenhaus Salpetrière lässt der Nervenarzt und Begründer der Neurologie, Professor Charcot, seine Lieblingspatientin Blanche Wittmann spektakulär in Trance fallen und demonstriert einem hingerissenen männlichen Publikum die Symptome der Hysterie. In der für ihn typischen fiktionalen Verdichtung faktischer Umstände lässt ihn Enquist kurz vor seinem Tod eine Liebesnacht mit Blanche erleben, denn Blanche ist in ihn „eingebrannt wie ein Brenneisen dem Tier“. Die öffentlichen Zurschaustellungen seiner Macht über die Patientin sind nichts anderes als der Ausdruck seines Begehrens, aber in Wirklichkeit ist er Blanche ausgeliefert – eine Befreiung ist der Beischlaf dennoch nicht. Im Spannungsfeld der Liebe bewegen sich auch Blanche und Marie Curie. Der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt des Romans sind drei Notizhefte, Fragebücher genannt, die Enquist Blanche auf den Leib schreibt und mit gegenläufigen Stimmen zu acht Gesängen zusammenfügt. Nach ihrer Heilung arbeitet Blanche in der Röntgenabteilung des Krankenhauses und wird Assistentin bei Marie Curie, mit der sie einen Pakt der Treue schließt. Nicht wissend, wie schädlich die Stoffe sind, rührt sie für die verehrte Freundin in der Schlacke radiumhaltiger Pechblenden herum, weshalb sie später beide Beine und einen Arm verlieren sollte und sich nur noch mithilfe einer rollenden Kiste bewegen kann. Ihre Hoffnung auf Befreiung mündet in eine Amputation. Und auch Marie Curie erfährt eine metaphorische Beschneidung. Zwar wird sie für ihre Entdeckungen mit zwei Nobelpreisen ausgezeichnet, aber durch die Liebe zu einem verheirateten Kollegen setzt sie ihre wissenschaftlichen Verdienste aufs Spiel. Die Affäre schürt die Sensationslust der französischen Presse und bringt sie gesellschaftlich zu Fall. Erst durch eine mobile Röntgenstation während des Ersten Weltkriegs kann sie sich rehabilitieren. Auch die Liebe birgt kein Versprechen auf Erlösung. „Wie überleben wir die Liebe, wie würden wir ohne Liebe überleben?“ fragt sich Blanche einmal.
Per Olov Enquist prägt eine ganz eigene Spielart des historischen Romans, und er ist zugleich ein eminent zeitgenössischer Schriftsteller. Seine komplex montierten Recherchen und Collagen öffnen die historischen Diskurse bis in die Gegenwart hinein. Enquist ist selbst ein Magnetiseur – und einer der großen europäischen Schriftsteller unserer Zeit.
Maike Albath

Samstag, 26. August, 20 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro