Die Revue der Neuerscheinungen - Wie die Welt vermessen wird II
Lesungen und Gespräche mit Claire Beyer, Nadja Einzmann, Thomas Hettche, Kathrin Passig, Christoph Peters, Frank Schulz, Peter Stamm, Vladimir Vertlib, Ilka von Zeppelin. Moderation: Maike Albath, Verena Auffermann, Michael Braun, Dirk Kruse, Hajo Steinert, Florian Felix Weyh.
Die Besucher des Poetenfests des vergangenen Jahres erinnern sich sicher an die Lesepremiere des österreichischen Schriftstellers Daniel Kehlmann aus seinem ebenso klugen wie unterhaltsamen Roman „Die Vermessung der Welt“. Aber wer hätte damals gedacht, dass dieser Roman im Laufe des Jahres zu einem Bestseller avancieren sollte, wie ihn die deutschsprachige Literaturszene seit Jahren nicht mehr erlebte?
Auch der österreichische Erzähler Arno Geiger trat letztes Jahr in Erlangen auf. Sein Familienepos „Es geht uns gut“ wurde wenige Wochen nach seinem Auftritt im Schlossgarten mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Und auch in diesem Jahr ist es wieder ein Österreicher, der für Furore sorgen könnte: der Wiener Thomas Glavinic mit seinem barocken Endzeitszenario „Die Arbeit der Nacht“. „Der Roman ist bei aller geschickt inszenierten Spannung letztlich ein philosophischer Roman, der in immer neuen Wendungen die Frage umkreist, was das ist – die Abwesenheit“, schrieb Daniel Kehlmann im „Spiegel“. Nach seiner hymnischen Rezension landete die Geschichte von Jonas, der nach dem morgendlichen Aufwachen einer vollkommen menschenleeren Welt ansichtig wird, auf Platz Eins der österreichischen Bestsellerliste.
Hier die menschenleere, dort die mit Menschen nur so angefüllte Welt. Friedrich Christian Delius’ neue Prosa spielt in der, wie er selbst schreibt, „herrlichsten Stadt Europas“: Rom, die Stadt, in der er 1943 geboren wurde. In seinem neuen Buch feiert der große literarische Chronist der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte, eine Art literarische Heimkehr: still, unspektakulär, indes mit einer poetischen Kraft, die nur ein Autor von seinem Format zu zeigen in der Lage ist.
Seit jeher führt die literarische Landvermessung deutsche Autoren in die weite Welt. Keine literarische Saison, in der unsere besten Schriftsteller ihre Helden nicht auf Entdeckungsreise nach New York schicken. Thomas Hettche, Autor des sensationell erfolgreichen Kriminalromans „Der Fall Arbogast“, erzählt von der Reise eines Schriftstellers mit seiner Frau zum Big Apple. Mitten hinein in die Recherchen über das Schicksal eines jüdischen Emigranten platzt die Nachricht von der Entführung der schwangeren Frau. „Woraus wir gemacht sind“ ist nicht nur eine nervenaufreibende literarische Spurensuche, der Roman entwirft darüber hinaus ein faszinierendes Panorama eines Landes, in dem der Held überall mit Tod und Einsamkeit konfrontiert wird.
Von einer Vermissten in New York erzählt auch der neue Roman des Schweizer Schriftstellers Rolf Dobelli. Für den romantisch veranlagten Banker in „Himmelreich“ ist die Vorladung vom FBI ein persönlicher wie existentieller Schock.
Der Bestsellerautor Peter Stamm, zuletzt hervorgetreten mit meisterhaften Erzählungen in dem Band „In fremden Gärten“, erzählt von einem Mann, der von einem Tag auf den anderen alles hinwirft, seine Wohnung verkauft, seine Stelle kündigt, um zu der Frau zurückzukehren, die er vor langer Zeit einmal geliebt hat. Noch weiter hinaus in die Welt, nämlich in die chinesische Unruheprovinz Xinjiang am Rande der Wüste Taklamakan zieht es die Menschen in Ulrich Schmids Polit-Thriller „Aschemenschen“.
Ganz gleich, wo es deutschsprachige Autorinnen und Autoren unserer Zeit hinzieht, es geht bei ihren literarischen Landvermessungen oft um die Erkundung des eigenen Seelenlebens. Und nichts stört den inneren Seelenfrieden bekanntlich mehr, als die Erfahrung der Liebe. Eine Spezialistin auf diesem Gebiet ist Elke Schmitter, Autorin des Bestsellers „Frau Sartoris“. In ihrem neuen Roman „Veras Tochter“ knüpft sie an die Erfahrungen jener jungen Frau an, die von der Kritik an die Seite der berühmten Emma Bovary von Flaubert gestellt wurde.
Eine überraschende Begegnung mit der ersten Liebe des Lebens macht Bodo Morten, der Held in Frank Schulz’ Roman „Das Ouzo-Orakel“. Nachdem die Welt für Bodo völlig aus den Fugen geraten war, wandert er nach Griechenland aus, um dort, an einer Meeresbucht, ein asketisches Leben zu führen – ehe Monika eines sonnigen Tages auftaucht und ihn in neue Verzweiflung stürzt.
Weitaus blutigere Erfahrungen macht der junge Deutsche Jochen Sawatzky in Christoph Peters’ neuem Roman „Ein Zimmer im Haus des Krieges“. „Was mich fasziniert, ist der Gedanke, dass etwas Geistiges eine derartige Kraft haben kann, dass man dafür sein Leben opfert – und gegebenenfalls auch dafür tötet“, lautet der Kommentar zu einem Roman, in dem islamische Terroristen einen blutigen Anschlag auf den Tempel von Luxor verüben. Ein packender Roman, von dem in diesem Herbst noch viel die Rede sein wird!
Die literarische Entdeckung des Frühjahrs war der Leipziger Autor Clemens Meyer. Sein knallharter Realismus in dem Nachwende-Roman „Als wir träumten“ überzeugte alle: die Buchhändler, die Leser und letztlich auch die Kritik. Ein Leben zwischen Autoklau, Alkohol und Angst, zwischen Wut und Empfindlichkeit. „Wie weiter“ heißt der neue wunderbare Roman von Angela Krauß, in dem es nicht nur um die große Geschichte geht, sondern auch um kleine Tragödien. Angela Krauß erzählt auch in ihrem neuen Meisterwerk von den Falten der Liebe, von Wiederholungen, von Neuanfängen.
Auch Annette Pehnt gehört zu den herausragenden deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihr neuer Roman „Haus der Schildkröten“ handelt von den Spielregeln in einem Altersheim. Über Sterben und Tod zu schreiben, ohne in Realismus zu verfallen oder in poetische Verklärung, ist eine Kunst – und diese Kunst beherrscht Annette Pehnt wie kaum eine andere ihrer Generation. Einer Schriftstellergeneration, deren literarische Themen immer wieder um das Leben und Auseinanderleben in der Familie kreisen. So auch bei Claire Beyer, die in ihrem zweiten Roman „Remis“, die Geschichte zweier Ehepaare erzählt, deren Lebenswege sich plötzlich untrennbar miteinander verknüpfen. Die Protagonisten des Romans streiten über die Möglichkeiten persönlicher Selbstbestimmung, doch jeder erfochtene Kompromiss kommt am Ende einer Niederlage gleich.
Kein Poetenfest ohne Künstlerromane. In Tobias Hülswitts Roman „Der kleine Herr Mister“ ist es ein junger Maler, der nach Art eines Teufelspakts mit einem mysteriösen Gönner vieles gewinnt, eine Karriere zum Beispiel, aber auch vieles verliert, seine Freundin, seine Seele, sein Gesicht. Der groteske Humor des Autors macht auch diesen Roman zu einem absoluten Lesegenuss. Was man auch über das Befragungsbuch der deutschen Autorin Nadja Einzmann sagen kann, deren Porträtband „Dies und das und das“ die unterschiedlichsten Stimmen zu einem Logbuch der deutschen Seele versammelt. Ihre Befragung der unterschiedlichsten Menschen zu Alltag, Ängsten und Träumen, lässt die Grenzen der Dokumentarliteratur weit hinter sich.
Mit Kathrin Passig liest auch in diesem Jahr die Gewinnerin des Ingeborg Bachmann-Preises in Erlangen. Mit ihrem literarischen Debüt, der Erzählung „Sie befinden sich hier“, geschrieben in der Form des inneren Monologs einer im Schnee erfrierenden Person, löste sie aber auch heftige Diskussionen im Literaturbetrieb aus.
Lesungen aus Romanen, die in den Erfahrungen des Nationalsozialismus wurzeln, gehören zur Tradition des Erlanger Poetenfests. Da ist zum einen die Lebensgeschichten des in Leningrad geborenen, heute in Salzburg lebenden Schriftstellers Vladimir Vertlib. In der Titelgeschichte seines Bandes „Mein erster Mörder“ wird ein bis dahin unbescholtener Mann wegen Totschlags zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Was haben sein Vater und dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg mit dem Sohn und seiner Tat zu tun? Ilka von Zeppelin erzählt in „Dieses Gefühl, daß etwas nicht stimmte“ von einer Kindheit zwischen 1940 und 1948. Ihr unprätentiöses Geschichts- und Familienbuch handelt vom Krieg in Berlin und dem Leben auf der fränkischen Burg Hartenstein. So weit können sie gehen, die literarischen Land-, Seelen- und Zeitvermessungen in der Literatur unserer Gegenwart. Die Revue der Neuerscheinungen mit den besten aktuellen deutschsprachigen Geschichten entführt die Zuhörer auch in diesem Jahr wieder in ferne Welten, vergangene Zeiten und eine Gegenwart, wie sie verwinkelter kaum sein kann.
Hajo Steinert
Sonntag, 27. August, 13–19.30 Uhr, Schlossgarten
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