Vladimir Vertlib

Vladimir Vertlib, der 1966 in Leningrad geboren wurde, spricht vierzig Jahre später österreichisch perfekt wie ein Salzburger. Er ist mehr als Schriftsteller, Soziologe, Übersetzer, Vladimir Vertlib ist Spezialist für Lebensgeschichten. In seinen beiden ersten Büchern „Abschiebung“ (1995) und „Zwischenstation“ hat er die Erfahrungen seines eigenen Migrantenschicksals verarbeitet, denn seine Kindheit und Jugend war eine Odyssee, die diesen Namen wirklich verdient: Russland-Israel-Österreich-Italien-Österreich-Holland-Israel-Italien-Österreich-USA. Die in dem Band „Mein erster Mörder“ (2006) versammelten Lebensgeschichten haben alle einen realen Hintergrund. Die außerordentliche Qualität dieser Texte, ihre Eindringlichkeit, ihre historische Bedeutung verdanken sie der Begabung des Erzählers Vertlib, der viel mehr als das wiederzugeben weiß, was andere ihm erzählen. Die einzelnen Schicksalsszenen fügt er dramaturgisch klug zusammen. Der Erzähler hört drei Menschen zu: Leopold, Renate und Robert. Leopold Ableitinger, ein Mann, der einen anderen ermordet hat, erzählt die Geschichte seines Vaters und seiner Jugend. Es ist eine Geschichte armer Verhältnisse, Repressionen und Schuld. Vertlib psychologisiert nie, er erzählt die Lebensumstände in ihrer Dramatik und Komik. Er sagt nicht, wieso dieser brave Kerl die Kontrolle über sich verlor und einem unverschämten jungen Schnösel den Stil seiner Pfeife in die Augen gerammt hat. Vladimir Vertlib zeigt neuralgische Punkte von Leopolds Biografie, und wie es zur Tat kommen konnte. In „Ein schöner Bastard“ wird Renates Schicksal erzählt. Renate ist Tochter eines Deutschen und einer tschechischen Jüdin. Vor dem Krieg geht es Renates Familie gut. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 in die „Resttschechei“ ist Renate immer auf der falschen Seite. Sie wird BDM-Mädchen, trainiert sich eine akzentfreie deutsche Sprache an, wird 1943 dennoch nur als „bedingt eindeutschungsfähiger slawisch-jüdischer Mischling“ eingestuft. Nach der Befreiung 1945 werden die Deutschen misshandelt, Renate spricht wieder tschechisch, der Vater muss das Land verlassen. Die „Tschechoslowakei habe in den Jahren nach dem Krieg einem Menschen geglichen, der kurz vor einer schweren Erkältung steht“. Vladimir Vertlib erzählt das Schreckliche nüchtern, das verstärkt den Eindruck des brutalen Wahnsinns der NS-Rassenpolitik. Das gilt auch für Robert und Karl, zwei junge Wiener, die Ende 1939 zu fliehen beschließen. Eine Irrfahrt durch ganz Jugoslawien, nach Italien, wieder zurück nach Wien zur Gestapo. Die Lebensgeschichten in Vladimir Vertlibs „Mein erster Mörder“ sind weder wehleidig noch anklagend. Sie sind eindeutig, manchmal komisch, sie sind mitreißend und beeindruckend. (V. A.)
Auszeichnungen u. a.: Staatsstipendium für Literatur durch das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (1996), Stipendiat des 2. Klagenfurter Literaturkurses (1998), Förderungspreis für Literatur von der Republik Österreich (1999), Förderpreis zum Adelbert von Chamisso-Preis, Wiener Autorenstipendium, Anton Wildgans-Preis (2001), Chamisso-Poetik-Dozentur der Sächsischen Akademie der Künste und des Mitteleuropa-Zentrums der TU Dresden (2006).

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Abschiebung“, Erzählung, Otto Müller Verlag, Salzburg 1995 – „Zwischenstationen“, Roman, Deuticke, Wien 1999, Taschenbuch dtv, München 2005 – „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“, Roman, Deuticke, Wien 2001, Taschenbuch dtv, München 2003 – „Letzter Wunsch“, Roman, Deuticke, Wien 2003, Taschenbuch dtv, München 2006 – „Mein erster Mörder“, Lebensgeschichten, Deuticke, Wien 2006


So, 27.8., 15.30 Uhr, Orangerie im Schlossgarten und 18 Uhr, Schlossgarten