Annette Pehnt Annette Pehnt hat etwas übrig für die Zwischentöne des Daseins: Ihre Helden entziehen sich den Zwängen der Normalität und finden Gefallen an merkwürdigen Parallelexistenzen. So gab sich in Pehnts Debüt „Ich muss los“ (2001) der Alltagsverweigerer Dorst zweckvergessen dem einzelnen Augenblick hin und vermied als ewig spazieren gehender Stadterkunder jede Festlegung. Auch die Protagonistin von Pehnts zweitem Roman „Insel 34“ (2003) zeichnete sich durch ein verschrobenes Beharrungsvermögen aus und entwickelte eine Leidenschaft für die Insel 34, ein vergessenes Nordseeeiland. Zu Forschungszwecken nimmt sie einige Jahre später zunächst auf der Insel 28 Quartier und arbeitet sich in Sackpfeifenmusik, Mundart und Begrüßungsformeln wie „Der Wind der Zeit für Dich“ ein, bis sie Insel für Insel zu ihrem Sehnsuchtsort vordringt. Mit stilisiertem Gleichmut zeichnet Annette Pehnt – 1967 in Köln geboren, nach dem Studium der Keltologie und Aufenthalten in Irland, Schottland und den USA heute in Freiburg zu Hause – die Wege ihrer Akteure nach. Realistisches Erzählen und surreale Wirklichkeiten gehen in ihren Büchern ein spannungsreiches Verhältnis ein, Beschreibungskomik, subversive Naivität und Lakonie halten sich die Waage. Nach dem Kinderbuch „Rabea und Marili“ (2006) legt sie im Piper-Verlag jetzt einen neuen Roman vor, der unter dem Titel „Haus der Schildkröten“ erscheinen wird und literarisch eine neue Richtung einschlägt. Ein Altersheim, wo sich Woche für Woche die Angehörigen ein Stelldichein geben, ist dieses Mal der Ort der Handlung. Jeden Dienstag wartet Frau von Kanter auf ihre Tochter Regina, und jeden Dienstag fühlt sich Professor Sander durch den Besuch seines Sohnes Ernst gestört. Wie viel lieber würde er in Ruhe arbeiten, wie es er sein ganzes Leben getan hat! Die Erzählerstimme schlüpft in die alten Menschen hinein, deren Gedanken und Empfindungen sich oft der sprachlichen Vermittlung entziehen, und wechselt dann zu Ernst und Regina, ergänzt durch die Perspektiven der Pfleger Gabriele und Maik. Das Ergebnis ist eine Milieustudie voller Zwischentöne, die unseren Umgang mit Verfall und Alter erhellt. Frau von Kanter kann sich nur noch durch Gurgeln oder eine verzerrte Mimik verständlich machen, obwohl sie am Leben ihrer Tochter teilhat und ihr vieles sagen möchte. Um die bedrückende Sprachlosigkeit nicht fortwährend zu spüren, übergießt Regina ihre zur Passivität verurteilte Mutter mit hilflosen Redeschwallen. Professor Sander fehlen oft einzelne Wörter, und manchmal haken ganze Sätze in seinem Kopf fest. Er verwechselt seine Enkelin Lili mit seiner Frau, hält an seinem Lebensmodell des Schreibens und Forschens fest, auch wenn er nur sinnlose Kritzeleien zu Papier bringt, und scheint auf viele Fragen seines Sohnes schematisch zu reagieren. Nur seine Enkelin Lili, der die Wunderlichkeit des Großvaters keine Angst bereitet, geht unbefangen mit ihm um und dringt tiefer in sein Inneres ein. Durch die alternden Eltern auf zwiespältige Weise in die Pflicht genommen, erkennen Ernst und Regina im jeweils anderen die eigene Unzulänglichkeit wieder. Sie beginnen eine Liebschaft, schwänzen gemeinsam einen Dienstagsbesuch und fahren schließlich nach Malaysia. Aber eine Beziehung ist kein Ausweg aus dem Lebensdilemma: Am Ende muss jeder lernen, ein Einzelner zu sein. (M. A.)Auszeichnungen u. a.: Förderpreis der Kunststiftung Baden-Württemberg (2000), Künstlerinnenpreis Nordrhein-Westfalen, Mara Cassens-Preis des Hamburger Literaturhauses (2001), Stipendium des Deutschen Literaturfonds Darmstadt, Preis der Jury beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb (2002). Veröffentlichungen (Auswahl): – „John Steinbeck“, Biografie, dtv, München 1998 – „Ich muß los“, Roman, Piper, München 2001, Taschenbuch ebd. 2002 – „Insel 34“, Roman, Piper, München 2003, Taschenbuch ebd. 2004 – „Der kleine Herr Jakobi“, mit Illustr. von Jutta Bauer, Piper, München 2005 – „Rabea und Marilli“, mit Illustr. von Jutta Bauer, Carlsen, Hamburg 2006 – „Haus der Schildkröten“, Roman, Piper, München, September 2006 Sa, 26.8., 15 Uhr, Schlossgarten |
|