Ilka von Zeppelin

Ilka von Zeppelin hat knapp sechzig Jahre verstreichen lassen, bevor sie sich an ihre extreme Kriegs- und Nachkriegskindheit zwischen 1940 und 1948 gewagt hat. In ihrem kurzen Buch über „Dieses Gefühl, daß etwas nicht stimmte“ riskiert Ilka von Zeppelin viel. Sie schreibt aus der Perspektive des Kindes, das 1940 vier Jahre und 1948 zwölf Jahre alt ist. Natürlich erzählt sie, was ihr widerfuhr, nicht mit dem eingeschränkten Wortschatz eines Kleinkinds. Aber ihre Sprache ist angenehm direkt und klammert vieles aus, was außerhalb des Horizonts eines Kindes liegt, ohne in Niedlichkeiten zu verfallen. Was sie erlebt und wie sie es darstellt, ist drastisch und dramatisch. Das Buch ist in der Vergangenheitsform geschrieben, schildert aber das absolute Präsens oder die Weltgeschichte im Kinderauge. Das Kriegsende ist eine bloße Behauptung, ein Stück Schokolade das Glück. Die Abwesenheit des Vaters, der „immer im Dienst“ war „und dann immer im Krieg“, begeisterter Soldat Hitlers, der alle bemitleidet, die nicht in den Krieg dürfen, wird durch wechselnde „Ersatzpapis“ gemildert. Lebensgefährliche Krankheiten, die Beziehungen unter den Geschwistern, das Leiden des kleinen Mädchens, nicht so schön blond wie die ältere Schwester zu sein, der ganze kindliche Kosmos von Erschrecken und Unerschrockenheit, alles kommt klar zur Sprache. Auf die Flucht aus Berlin auf die fränkische Burg Hartenstein zu den Großeltern folgt eine Notzeit, die Ilka von Zeppelin ohne jede Sentimentalität wie eines der schlimmen Grimmschen Märchen erzählt. Die Burg ist beherrscht vom mitleidlosen Großvater, einem Kunstsammler und Privatgelehrten, er ignoriert das Elend seiner Tochter und ihrer Kinder. In dieser kalten Burg gibt es nichts zu essen – und was es gibt, bekommt der alte grausame Herr. Vielleicht hat Ilka von Zeppelin auch an den selbstsüchtigen Riesen aus Oscar Wildes Märchen vom „Glücklichen Prinzen“ gedacht, denn nur der Großvater darf das Obst aus dem Burggarten essen. In der übrigen Burg herrscht Chaos, Flüchtlingstrupps werden einquartiert, die Mutter schreit jede Nacht im Schlaf, die Kinder kratzen den Kalk von der Wand und lutschen an ihm, in der Schule regiert eine Nazilehrerin. Dass der Großvater Kontakt zu Hermann Göring und später zum Nürnberger Chefankläger Robert Kempner hat, dass der Vater aus dem Krieg zurückkommt und am nächsten Tag von einem amerikanischen Jeep abgeholt wird, wie soll ein Kind das verstehen? Eine Tüte Trockenmilch oder die Schulspeisung, den Deutschen von den Quäkern gespendet, ist existenzieller. Ilka von Zeppelin findet für ihr unprätentiöses Geschichts- und Familienbuch einen sehr guten Ton. Die nüchterne Intensität verstärkt den Eindruck, den die unkommentiert erschütternden Tatsachen hinterlassen. Weil niemand die kindlichen Fragen beantwortet, wünschte sich die Autorin, „schnell erwachsen zu werden“. Sechzig Jahre später, nach einem langen Forscherleben auf dem Gebiet der Klinischen Psychologie, entschloss sich Ilka von Zeppelin zu diesem beeindruckenden Bericht. (V. A.)

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Cognitive-Affective Processes“, zus. mit Ulrich Moser, Springer, Berlin/New York 1991 – „Der geträumte Traum. Wie Träume entstehen und sich verändern“, zus. mit Ulrich Moser, Kohlhammer, Stuttgart 1999 – „Dieses Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Eine Kindheit zwischen 1940 und 1948“, Wagenbach, Berlin 2005, Taschenbuch ebd. 2006


So, 27.8., 15 Uhr, Schlossgarten