Nico Bleutge Womit beginnt das Abenteuer des Sehens? Das Auge ist zunächst ein gefräßiges Organ, das nach Bemächtigung der Dinge strebt im begehrlichen Blick. In seinen „Bekenntnissen“ hat zum Beispiel der Philosoph und Kirchenlehrer Augustinus eine „sündenhafte Versuchung“ durch die „Begierlichkeit der Augen“ eingestanden. Und es gibt den berühmten Bericht Petrarcas über seine Besteigung des südfranzösischen Berges Mont Ventoux im Jahr 1335, in dem der Dichter berichtet, dass er nach dem Erreichen des Gipfels durch die Augustinus-Lektüre von seiner „Schaulust“ geheilt wird und den Blick fortan nach innen richtet. Was heißt das nun für den Augensinn der Poesie? Was heißt das für die Gedichte des 1972 geborenen Lyrikers Nico Bleutge, der wie kein anderer Autor seiner Generation das „Abenteuer des Sehens“ in seinen Gedichten realisiert? Denn vieles wird in seinen Texten in seiner Phänomenalität und sinnlichen Konkretion ganz genau betrachtet: eine Küstenlinie, eine leichte Wellenbewegung auf sich kräuselndem Wasser, ein sanfter Windstoß, der durch Grashalme fährt. Das „Abenteuer des Sehens“ speist sich bei Nico Bleutge aber nicht von jenem erwähnten besitzergreifenden Sehen, sondern von einem Zustand „entgrenzter Wahrnehmung“. Der Autor selbst spricht in Anlehnung an den russischen Romancier Vladimir Nabokov von „optischen Amalgamierungen“ in seinen Gedichten. Es sind fast immer „wandernde teilchen“, die der Dichter anvisiert, die jedoch nicht als tote Objekte fixiert werden, sondern als Gegenstände, deren Fremdheit nie eingeholt werden kann in einem klar zu definierenden Sinn. Es bleibt in diesen Exerzitien der Wahrnehmung vieles in der Schwebe. Diese poetische Wahrnehmungslehre mag ihre Inspirationen auch aus den literaturhistorischen Studien beziehen, die der in Tübingen lebende Autor betreibt. Nach seinem Studium der Neueren Deutschen Literatur, Allgemeinen Rhetorik und Philosophie in Tübingen hat er eine bislang unabgeschlossene Dissertation über Robert Musil begonnen. Seit 2001 arbeitet er auch als Literaturkritiker, u. a. für die „Süddeutsche Zeitung“, den „Tagesspiegel“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Vieles erscheint in seinen Gedichten wie eine pointillistische, auf kleinste Einzelheiten fixierte Landschaftsmalerei. Von komplexen Standfotos und Vexierbildern zu Meeresufern und Küsten-gegenden ist der Dichter mittlerweile zu Gemälde- bzw. Skulpturen-Gedichten gelangt, so z. B. in den großartigen „charakterkopf“-Studien, die den 69 Köpfen des Barockkünstlers Franz-Xaver Messerschmidt (1736–1783) gewidmet sind. Hier ist ein hellwacher, ungeheuer präzise beobachtender Augen-Mensch bei der Arbeit zu besichtigen, mit einem „feinen etwas unbestimmten strich / der eine möglichkeit mit einer andern möglichkeit“ verknüpft. Bislang waren Nico Bleutges Wahrnehmungs-Gedichte nur in Literaturzeitschriften zu lesen. Nach langer Wartezeit wird nun im August 2006 sein erster Gedichtband „klare konturen“ im renommierten C. H. Beck Verlag in München erscheinen – ein Debüt, dem wir mit großen Hoffnungen entgegensehen dürfen. (M. B.)Auszeichnungen u. a.: open mike der LiteraturWERKstatt Berlin (2001), Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis des Literarischen März Darmstadt (2003), Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg, Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin (2004), Aufenthaltsstipendium im Künstlerdorf Schöppingen (2006). Veröffentlichung: – „klare konturen“, Gedichte, C. H. Beck, München, August 2006 So, 27.8., 13.30 Uhr, Schlossgarten |
|