Richard Pietraß

Dieser Dichter hat schon früh den ökologischen Suizid der Spezies Mensch prognostiziert. Als die DDR ihre Poeten noch auf die „konstruktive“ Kritik an der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ verpflichten wollte, sprach der 1946 in Lichtenstein/Sachsen geborene Richard Pietraß schon Klartext. Zum Beispiel in seinem Gedicht „Die Schattenalge“, das bereits 1987 die Vision des Untergangs unüberbietbar prägnant zusammenfasste, lange vor den einschlägigen Katastrophen-Bestsellern wie Frank Schätzings „Schwarm“: „Im tickenden Schatten blattloser Eisenstämme / In Betonsilos, Meilen unter dem Meer. / Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie / Vom Ende der Welt auf uns zu.“ Richard Pietraß, einer der kenntnisreichsten und zugleich am meisten unterschätzten Dichter Ostdeutschlands, hat sich schon früh der „kommunistischen Erziehung“ verweigert. Als einer der wenigen DDR-Autoren beherrschte er die Kunst des listenreichen Umgangs mit der Zensur, um sich in verschlüsselter Form politisch treu bleiben zu können. Nach dem Abitur arbeitete er als Metallhüttenwerker und Hilfspfleger und begann schließlich ein Studium der Klinischen Psychologie an der Berliner Humboldt-Universität. 1975 zog es ihn zur Literatur: Bis 1979 arbeitete er als Verlagslektor im Ostberliner Verlag „Neues Leben“ und gab dort die Zeitschrift „Temperamente“ und die Reihe „Poesiealbum“ heraus. Sein lyrisches Debüt in der DDR signalisierte schon im Titel eine gewisse Renitenz: Es hieß nämlich „Notausgang“ (1980). Das lyrische Ich vergleicht darin sein Schreiben mit dem Auftauchen eines Blauwals, den die Atemnot immer wieder an die Wasseroberfläche zwingt. Den emsigen Herausgeber der nonkonformistischen „Poesiealbum“-Reihe entfernte man 1979 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von seinem Posten, da seine poetischen Experimente der DDR-Kulturpolitik zuwiderliefen. Aber Pietraß blieb in der DDR, brillierte als exzellenter Nachdichter russischer und spanischer Poeten und verblüffte in seinen Bänden „Freiheitsmuseum“ (1982) und „Spielball“ (1987) mit vexierbildhaften Wortspielen und einer Technik des gleitenden Binnenreims. Zu seinem 60. Geburtstag hat sich Pietraß, der derzeit in Berlin lebt, mit dem Band „Freigang“ beschenkt, der Gedichte aus den letzten drei Jahren versammelt. Ein „Freigänger“ kann seine Freiheit ja in der Regel nur befristet genießen und weiß um seine Gefangenschaft, die nur vorübergehend aufhebbar ist. Pietraß’ „Freigänger“ nähert sich in anrührend kindlichem Trotz den Schönheiten dieser Welt, trauert um verlorene Freunde und artikuliert all seine Ambivalenzen in seinem Verhältnis zu Vater Staat und Mutter Natur. Virtuos wie kaum ein anderer Autor inszeniert Pietraß mit seinem humorbereiten „Schalkschädel“ das regelgelenkte Sprachspiel und seine nach wie vor frisch wirkende Reim-Artistik. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1991), Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar (1992), Förderpreis zum Hans Erich Nossack-Preis, Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (1994), Wilhelm-Müller-Preis (1999).

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Notausgang“, Aufbau, Berlin 1980 – „Freiheitsmuseum“, Aufbau, Berlin 1982 – Inge Müller: „Wenn ich schon sterben muss“. Hrsg., Aufbau, Berlin/Weimar 1985 – „Spielball“, Aufbau, Berlin/Weimar 1987 – Hans Arp: „Opus Null“, Hrsg., Aufbau, Berlin/Weimar 1988 – H. C. Artmann: „Wenn du in den Prater kommst“, Hrsg., Aufbau, Berlin/Weimar 1988 – „Was mir zum Glück fehlt“, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1989 – Edith Södergran: „Klauenspur“, Gedichte und Briefe, Hrsg., Reclam, Leipzig 1990 – „Letzte Gestalt. Elf Gedichte“, Keicher, Warmbronn 1994 – „Randlage. Zwölf Gedichte“, Keicher, Warmbronn 1996 – „Grenzfriedhof“, Edition Mariannenpresse, Berlin 1998 – „Kolonnenweg“, UN Art IG, Aschersleben 2001 – „Die Gewichte. Hundert Gedichte“, Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2001 – „Schattenwirtschaft“, Faber & Faber, Leipzig 2002 – „Vorhimmel. Liebesgedichte“, Gollenstein, Blieskastel 2003 – „Freigang“, Faber & Faber, Leipzig, August 2006
Übersetzungen (Auswahl): – Boris Pasternak: „Die Gedichte Juri Shiwagos“, In: „Doktor Schiwago“, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1993 – Seamus Heaney: „Norden“, Hanser, München 1996 – Milan Rufus: „Strenges Brot“, zus. mit Uwe Grüning, Gollenstein, Blieskastel 1998


So, 27.8., 18.30 Uhr, Schlossgarten