Thomas Hettche Was ist urbaner als die Skyline von New York? Nervöse Müdigkeit sitzt Niklas Kalf und seiner Frau Liz noch in den Knochen, als sie mit Jetlag-geschärfter Aufmerksamkeit die imposanten Hochhäuser der 29. Straße betrachten. Die beiden sind zum ersten Mal in New York. In einem Restaurant sollen sie den Verleger Albert Snowe treffen, der an Kalfs Projekt interessiert zu sein scheint. Beauftragt von Elsa Meerkaz, einer jüdischen Emigrantin, arbeitet Kalf an einer Biografie über ihren verstorbenen Mann Eugen, einen Physiker. Aber während des Essens mit dem Verleger diskutiert man vor allem einen spektakulären Mordfall, der sich einige Jahre zuvor im Central Park zugetragen hatte: eine Fünfzehnjährige von der eleganten Upper Westside hatte gemeinsam mit ihrem Freund einen Mann auf grausame Weise getötet und die Leiche in den See geworfen. Plötzlich ist Niklas Kalf von der fiebrigen Atmosphäre New Yorks angesteckt: „Es ist eine Illusion zu glauben, wir wüssten, wann eine Geschichte zu Ende ist. Spüren wir es doch kaum, wenn eine neue beginnt“, heißt es, und als New York den ersten Jahrestag des 11. September mit Gedenkfeiern begeht, befindet er sich plötzlich mitten in einer neuen Geschichte. Die schwangere Liz ist wie vom Boden verschluckt. Kalf erhält einen Erpressungsanruf. Die Entführer fordern Material über Meerkaz, der irgendetwas mit einem furchtbaren Geheimnis zu tun haben muss, und der verzweifelte Biograf tritt eine Reise durch die USA an und taumelt zwischen der texanischen Wüstenstadt Marfa, Los Angeles, einer Villa am Pazifik, einer Lehmhütte in der Prärie und New York hin und her. Mit kühler Eleganz entspinnt Thomas Hettche eine beklemmende Szenerie. Ähnlich wie in seinem letzten Roman „Arbogast“ arbeitet der Schriftsteller mit Elementen des Thrillers. Ein Verbrechen wabert im Hintergrund, das Unerklärliche verdichtet sich, und es entsteht eine Spannung, die an Hitchcock und Polanski erinnert. In seinen frühen literarischen Texten hatte sich Thomas Hettche, 1964 in Treis bei Gießen geboren, als Theoretiker erprobt: Fasziniert von der Materialität der Sprache und der intellektuellen Durchdringung des Körpers ging er in seinem Essay „Animationen“ (1999) der Frage Augustinus’ „Was also war’s für ein Wort, durch welches der Körper gebildet wurde?“ nach. In Verknüpfung damit beschäftigte sich Hettche mit den erotischen Sonetten des Renaissancedichters Pietro Aretino, von denen er 1997 eine Nachdichtung vorlegte. Verschiedene Fiktionsebenen konkurrierten in seinem Debüt „Ludwig muss sterben“ (1989), zugleich ein Versuch, über die Bedingungen des Erzählens zu reflektieren. Nicht nur der todkranke Ludwig und sein Bruder treten in Aktion, sondern auch Figuren aus dem Anatomieatlas. Nach den theoretisch hoch aufgeladenen Prosatexten in „Inkubation“ (1992) ging es in „Nox“ (1995) um die Nacht des Mauerfalls: Es sei der Versuch gewesen, „mehr Welt ins Buch zu bekommen“. Zu Beginn wird der Ich-Erzähler ermordet, gleichwohl kann er die Geschichte seines Todes und die Erlebnisse seiner Mörderin nach der Tat festhalten. Er „lauscht dem Atem der Dinge“ und berichtet, wie die Täterin durch Berlin stromert und an sadomasochistischen Sexualriten teilhat. Mit „Arbogast“ (2001) beschreitet Thomas Hettche erzählerisch ein neues Terrain. Ein authentischer Justizirrtum der 50er Jahre liefert das Material für den Roman. Die historische Grundlage ist der Fall Hans Hetzel, der 1955 wegen Lustmord zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt und nach 14 Jahren aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Hettche benennt den Protagonisten in Hans Arbogast um und macht das sexuelle Abenteuer des Vertreters für Billardtische und der Anhalterin Marie Gurth zum Ausgangspunkt seines Romans. Das Paar ist in die Rituale des Liebesspiels vertieft, als Arbogast Marie plötzlich tot in den Armen hält. Obwohl bei der Autopsie Herzversagen und eine unsachgemäß durchgeführte Abtreibung festgestellt werden, kommt der Pathologe Prof. Maul in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass Marie Gurth erdrosselt worden sei. Erst zwölf Jahre später beginnen sich der Publizist Fritz Sarrazin und der Rechtsanwalt Ansgar Klein für den Fall zu engagieren und erreichen nach zwei abgeschmetterten Anträgen 1969 die Wiederaufnahme des Verfahrens. In den Tiefenschichten des Textes geht es vor allem um Sexualität, Erotik und Tod. Wie ein Anatom – „der privilegierte Schauplatz des Blicks war die Anatomie“ hieß es in seinem Venedigbuch „Animationen“ (1999) – legt Hettche mit seinem Skalpell-Blick Schicht um Schicht frei: Das Liebespaar, die Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren, die stummen Bindungen der Figuren untereinander, alles wird seziert. Von den formalen Experimenten seiner frühen Werke bis zu den flirrenden Inszenierungen seines neuesten Romans entwickelt Thomas Hettche eine faszinierende Poetik des kühlen Blicks. (M. A.)Auszeichnungen u. a.: Preis des „Jungen Literaturforums Hessen“ (1986 und 1987), Hungertuch-Preis (1987), Preis der Kärntner Industrie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1989), Rauriser Literaturpreis, Robert-Walser-Preis (1990), Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik (1994), Rom-Preis der Villa Massimo (1996), Premio Grinzane Cavour, Spycher: Literaturpreis Leuk (2001). Veröffentlichungen (Auswahl): – „Ludwig muß sterben“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989, Neuausgabe DuMont, Köln 2002, Taschenbuch List, München 2004 – „Inkubation“, Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 – „Nox“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995, Taschenbuch List, München 2004 – „Das Sehen gehört zu den glänzenden und farbigen Dingen“, Essay, Droschl, Graz 1997 – „Animationen“, Essay, DuMont, Köln 1999 – „Null. Literatur im Netz“, Hrsg. zus. mit Jana Hensel, DuMont, Köln 2000 – „Der Fall Arbogast“, Kriminalroman, DuMont, Köln 2001, Taschenbuch List, München 2003 – „Stellungen. Vom Anfang und Ende der Pornografie“, Essays, DuMont, Köln 2003 – „Woraus wir gemacht sind“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006 Übersetzungen (Auswahl): – Pietro Aretino: „I Modi. Stellungen. Die Sonette des göttlichen Pietro Aretino zu den Stichen von Marcantonio Raimondi“, Eichborn, Frankfurt a. M. 1997 Hörspiele (Auswahl): – „Der Fall Arbogast“, Universal Music 2004 – „Woraus wir gemacht sind“, DHV 2006 So, 27.8., 15.30 Uhr, Orangerie im Schlossgarten und 17.30 Uhr, Schlossgarten |
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